Die Frage könnte auch lauten: Warum Bekleidung? Bekleidung schützt uns z.B. vor Kälte oder vor Verletzungen bei bestimmten Tätigkeiten. In Form von Mode ist Bekleidung auch Ausdrucksform und Kulturbestandteil. Bekleidung ist auch ein Mittel zwischenmenschlicher Distanz und Kommunikation gleichermaßen. Daran ist nichts Falsches. Doch besteht eine grundsätzliche, bedingungslose Notwendigkeit, Kleidung zu tragen?
Wir glauben nicht! Wir werden nackt geboren und sind untrennbar mit unserem Körper verbunden – zumindest solange wir leben. Der eigene Körper ist das einzige, was in diesem Leben in unserem Besitz ist; jeder andere Besitz ist letztendlich eine intellektuelle Konstruktion. Warum soll es Gesetz sein, dass dieser Körper bekleidet sein muss?
Nacktheit und Zweck
In unserer Gesellschaft wird Nacktheit nur in ganz bestimmten Situationen akzeptiert, welche in der Regel mit einem Zweck oder Grund verbunden sind. Dann ist nur für diese definierten Zwecke eine Abkehr vom “Normalzustand” (also vom Angezogen-Sein) gesellschaftlich akzeptiert.
Wir kritisieren die Unvollständigkeit und oft dogmatische Ausrichtung dieser traditionellen Liste. Diese Liste umfasst im Wesentlichen:
- Sexualität
- Körperpflege wie Duschen und Baden
- medizinisch notwendige Untersuchungen, die Nacktheit unbedingt für den Untersuchungszweck voraussetzen
- Nacktheit in der Kunst
Nicht von allen akzeptiert, meist aber zumindest toleriert (war nicht immer so) und von einigen (insbesondere Naturisten) praktiziert ist:
- Nacktheit bei Wellness (wie Massagen) und beim Saunieren
- Nacktschwimmen und nacktes Sonnenbaden (insbesondere in abgelegenen oder uneinsichtigen Gebieten)
Aber auch bei den letztgenannten gibt es einen Zweck, einen Grund für die Nacktheit. Fällt dieser weg, so kehrt bei vielen die Scham schnell zurück und verhüllen sich rasch wieder.
Doch Nacktheit ohne vordefinierten Grund und Zweck oder gar im Dienste des eigenen Wohlbefindens und der eigenen Freiheit ist oft nicht vorstellbar und wird mit negativen Attributen und Begriffen wie exhibitionistisch, unschamhaft, zweifelhafte Absichten, Provokation, unhygienisch, unappetitlich, vulgär oder ähnlichem belegt.
Wir glauben, dass all diese Urteile im Allgemeinen nicht zutreffend sind und sind der Ansicht, dass durch die damit verbundenen Auflagen eine Art Schatten oder Makel auf unsere eigene Existenz gelegt wird (und auf unseren Körper als ein wesentliches Merkmal dieser Existenz). Weil diese Schatten auf uns liegen, kommen wir umgekehrt zu diesen negativen Urteilen und halten manchmal dogmatisch an ihnen fest.
Aufgrund dieser Urteile kommt es zu Körperersatzformen, wie die Definition bzw. Negation des Körpers durch eine rein geistige Welt, besonderer Fokus auf Modeformen (ohne Mode generell zu missbilligen) oder die Verfremdung von Körpern durch die Darstellung von Körperidealen bis hin zu computermanipulierten Utopien. Der Körper als nicht makelfreies biologisches Wesen, welches andere biologische Dinge verzehrt, umwandelt und ausscheidet, um überleben zu können, wird so gut wie möglich verdrängt.
Eine abschließende Bemerkung zu Naturismus und Sexualität: Das aktuell gesellschaftliche und durch Medien gestützte Bild zeichnet ein besonderes Naheverhältnis von Nacktheit und Sexualität. Das verunsichert viele, die zum erstem Mal mit Naturismus in Kontakt kommen, insbesondere auch junge Menschen, die mit diesem Bild aufgewachsen sind. Es tauchen Fragen auf, wie etwa: Mache ich etwas Unanständiges? Wie reagiert mein Körper beim Anblick nackter Menschen? Die beste Antwort ist hier: Probieren geht über Studieren! Man wird rasch merken, dass Ängste unbegründet sind, Naturismus ganz andere Erfahrungen beinhaltet und das obige Bild umfassender gezeichnet werden muss.
Zwang, Scham und Freiheit
Nacktheit wird auch oft mit Scham verbunden. Doch ist umgekehrt Scham nichts, was sich ausschließlich auf Nacktheit bezieht. Scham hat ihren Ursprung in der Regel in gesellschaftlichen Zwängen und Normen (wie ein bestimmtes gefordertes Aussehen – auch bezüglich des nackten Körpers), die den Menschen und Individuen aus unterschiedlichen Beweggründen auferlegt werden. Ursprünglich vielleicht noch an einen bestimmten Zweck gebunden, wird diese(r) äußere Zwang/Norm zur nächsten Generation weitergegeben. Durch veränderte Umstände hat diese(r) äußere Zwang/Norm aber vielleicht seine Beweggründe, seinen Zweck verloren. Dennoch bestimmt er unsere Kultur weiterhin und wird durch die Weitergabe per Erziehung von einem äußeren zu einem inneren Zwang, den wir uns letztendlich selbst auferlegen, ohne zu merken, dass wir dabei zu fremdbestimmten Individuen werden. Brechen wir mit diesem (inneren) Zwang oder definieren uns außerhalb einer Norm, so schämen wir uns, und zwar denen gegenüber, die nicht damit brechen. Oder anders gesagt: Der innere Zwang oder die innere Norm hat den Effekt, dass wir uns dabei denjenigen gegenüber schwach und erniedrigt fühlen, vor denen wir uns schämen. Diese Selbsterniedrigung hat zur Konsequenz, dass wir tunlichst vermeiden, uns zu schämen, und den inneren Zwang oder die innere Norm nicht bezüglich der Gültigkeit seiner Beweggründe hinterfragen. Wir sagen uns dann, dass wir nicht schön genug sind (im Fall von körperlicher Scham) oder dass wir etwas Unanständiges tun und übersehen, dass wir uns dabei unsere Freiheit nehmen, so zu sein, wie wir sind. Wir tauschen diese Freiheit gegen eine Fremdbestimmtheit, die uns vermeintliche Sicherheit gibt.
In der Erkenntnis, dass jedoch für ein bestimmtes Handeln in bestimmten Situationen der ursprünglich gedachte Zweck oder Beweggrund dieses Handelns nicht mehr gegeben ist, wir uns selbst und nicht fremd bestimmen wollen, dass wir die artifizielle Norm gegen das reale Individuum tauschen dürfen, liegt die Möglichkeit, die grundlose Scham zu überwinden und den damit verbundenen Schatten abzulegen.
Dieser Moment des Ablegens wird oft als großes positives Freiheitserlebnis empfunden. Und genau das, behaupten wir, passiert, wenn wir erkennen, dass bestimmte Situationen gar keine Kleider benötigen und wir so sein können, wie wir geboren sind – nackt, der Realität (der Natur) ein Stück näher.
Zwanglose Nacktheit und Befreiung
Es ist nicht unser Ziel, jeden zu überreden oder zu überzeugen, nackt zu sein, oder zu behaupten, dass Nacktheit immer und überall angebracht sei. Der Zwang zur Nacktheit wird von uns ganz klar mehr abgelehnt als der Zwang zur Bekleidung – es würde nur den einen Zwang durch einen anderen ersetzen, nicht aber von Zwängen befreien. Andere zu etwas zu zwingen heißt Gewalt und Macht auszuüben. Im Falle von Nacktheit führt das zu Erniedrigung und Verletzung. Auch für die Durchsetzung der in diesem Text genannten Argumente für Nacktheit, darf dieser Zwang zur Nacktheit niemanden aufgebürdet werden.
Es ist also unser Ziel, Nacktheit in einer zwanglosen Umgebung zu ermöglichen. Nacktheit zeigt mehr vom Menschen, macht ihn angreifbarer und verletzlicher. Nacktheit ist nichts Normales, sondern etwas Besonderes, so wie jedes Individuum etwas Besonderes ist. Die Nacktheit anderer überträgt uns Verantwortung im Umgang mit diesen Menschen. Dies schließt auch mit ein, dass Nacktheit nach Möglichkeit nichts Einseitiges sein soll. Mit der eigenen Nacktheit signalisiere ich einem anderen nackten Menschen, dass ich diese Verantwortung ernst meine.
Wir wollen daher die Möglichkeit aufzeigen, dass Nacktheit auch ohne die assoziierten Ängste existieren und ein Tor zur Befreiung öffnen kann, das jeder selbst durchschreiten kann, um dasselbe Gefühl von Befreiung und Freiheit in völliger Sicherheit zu erleben. Manche nennen diese Sicherheit auch Paradies. Wir sind nicht aus dem Paradies vertrieben worden; es ist unserem freien Willen eigen, eines zu bauen.